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Presseartikel
(JUNGLE WORLD, No. 51, 12.12.2001)
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Wer etwas über die Person Thomas Pynchon wissen will, geht
jetzt ins Kino. Wer sich für den Dichter interessiert, wartet
auf den nächsten Film.
Von Maik Söhler
Wo beginnen? In Kalifornien? In Mexiko? Im südlichen Afrika?
Gar in Göttingen? Später. Wahrscheinlich. Auf Schiffen?
Auf den Raketenkontrollschirmen? In Postkutschen? In der
mathematischen Fakultät der Universität Göttingen?
Im nächsten Jahr. Vielleicht.
Weitere Anhaltspunkte? Okay. Maryland und Pennsylvania, eine gerade
Linie. Okay. Peenemünde und Los Angeles, eine Parabel. Okay.
Einige Erzählungen und fünf Romane, fünf, V. Okay.
New York und der Geburtstag am 8. Mai, ein Bild.
Ein Bild? Darauf soll er zu sehen sein. James Bone, ein recht eitler
New York-Korrespondent der Londoner Times, ist sich sicher, Thomas
Pynchon fotografiert zu haben. Auf dem Bild zu sehen ist jemand,
der Tony Marschall ähnelt. Er hält einen
Jungen an der rechten und eine Einkaufstüte in der linken Hand.
Zu erkennen ist nichts. Thomas Pynchon und der Junge sind total
verpixelt. Wenn sie es überhaupt sind, die man dort sieht,
und nicht Tony Marschall, der ein Kind entführt.
Noch ein Bild? Es gibt ein paar Fotos aus den fünfziger Jahren,
Thomas Pynchon als junger Mann, als Student, als Matrose, er hat
schlechte Zähne. Das nächste Bild von Pynchon ist aus
dem Jahr 1977, nur seine Beine sind zu sehen. 1996 erscheint wieder
eins, es zeigt ihn von hinten. CNN hat 1997 eine Filmaufnahme gemacht,
von den vielen Personen, die durch belebte Straßen laufen,
soll eine Pynchon sein. 1998 schließlich schlägt James
Bone zu, er fotografiert einen Mann und will ihm zur Begrüßung
die Handreichen. Der Mann schreit: »Get your fucking hand
away from me.«
Alles klar? Eben nicht. Es gibt von Pynchon kein klares Foto mehr
seit 1963, seit dem Erscheinen seines ersten Romans »V.«,
und seit dem Versuch des Magazins Time, den damals in Mexiko City
lebenden Schriftsteller fotografieren zu lassen. Die Fotografen
hatten keinen Erfolg, Thomas Pynchon ist seither verschwunden. Als
er 1974 für »Die Enden der Parabel« den National
Book Award erhalten sollte, nahm ihn der Schauspieler Irvin Corey
in Empfang. In seiner kurzen Dankesrede redete er nur Unsinn. Auch
hier kein Bild von Pynchon.
Und nun gleich ein ganzer Film? Donatello und Fosco Dubini haben
sich auf die Suche gemacht. Die beiden Regisseure begleiten Menschen,
die Pynchon kennen, gekannt haben oder zu kennen glauben, und solche,
die ihn nicht kennen, aber alles über ihn
erfahren wollen: Datensammler, Webmaster und Verschwörungstheoretiker.
Alle zusammen räsonnieren über Orte, an denen der Schriftsteller
war oder hätte sein können, über Drogen, die er genommen
hat oder hätte nehmen können, sowie über den militärisch-industriellen
Komplex, Liebe, Gehirnwäsche, Sonnenbrillen, Nazi-Deutschland
und vor allem die Jagd nach einem Foto. Manchmal geht es sogar ein
bisschen um
Literatur.
Die Literatur also? Don DeLillo hat in seinem Roman »Mao II«
versucht, Pynchon seiner selbst gewählten Isolation zu entreißen
und ihn in der Figur des Bill Gray im Libanon sterben lassen, nachdem
sich ihm zuvor die Fotografin Brita Nilsson nähern durfte.
Auch Matt Ruff umgeht in »G.A.S - Die Trilogie der Stadtwerke«
das Bilderverbot und lässt den Marihuanapflanzer Thomas Pinch
von schattenboxenden Kängurus überfallen, damit er sich
inmitten des Chaos nicht gegen eine Polaroidaufnahme wehren kann.
Lassen wir den Mann, der nicht fotografiert und gefunden werden
will, doch einfach in Ruhe. Vielleicht ist der Autor des Romans
»Die Enden der Parabel«, in dem 1 000 Figuren agieren,
gegeneinander konspirieren und miteinander Wege durch den deutschen
Dschungel suchen, ja nur menschenscheu und schüchtern. Jedenfalls
ist ihm das Publizieren wichtiger als die Publicity. Man muss daraus
nicht gleich folgern, wie es in
einigen Rezensionen der vergangenen Woche zu lesen war, er werde
nur noch in seinen Werken sichtbar; der Mann hat gewiss Freunde,
er wird ganz normal einkaufen gehen, erwird, wenn er Durst hat,
irgendwo ein Bier trinken, und seine Ehefrau Melanie Jackson, die
auch seine Bücher vermarktet, und sein Sohn Jackson hätten
wohl wenig Interesse, ihr Leben mit einem Unsichtbaren zu teilen.
Natürlich hätte man gerne gewusst, was Thomas Pynchon
zum 11. September zu sagen hat, ausgerechnet er, in dessen Pass
das Kürzel V 09.11.01 steht. Ausgerechnet er, der die von den
Nazis geschaffene Rakete V2 schon in den USA einschlagen sah.
Ausgerechnet er, der seit Jahren in New York lebt. Ausgerechnet
er, der Subversive, der Physiker, der ehemalige Angestellte bei
Boeing, der Schöpfer diverser Verschwörungsgesellschaften
gegen die Macht, der Aufklärer, der Kritiker der Aufklärung,
der Zerstörer der Aufklärung.
Aber man muss ihn gar nicht fragen, es lässt sich auch nachlesen.
Im letzten Kapitel der »Enden der Parabel« schlägt
eine V2 in einem Kino in Los Angeles ein. Pynchon schreibt: »Der
Film ist gerissen, oder eine Birne im Projektor ist durchgebrannt.
Es war schwierig, selbst für uns alte Fans, die wir immer im
Kino gehockt sind (sind wir's nicht?), das zu erkennen, ehe die
Dunkelheit hereinbrach. Das letzte Bild stand viel zu kurz, als
dass
ein Auge es gehalten hätte. Eine menschliche Gestalt war es
vielleicht, träumend von einem frühen Abend in jeder großen
Hauptstadt, deren Leuchten hell genug ist, um von Unsterblichkeit
zu sprechen, vors Haus getreten für einen Wunsch an den ersten
Stern.«
Nun könnten die wenigen Wertkritiker, die dieses Buch gelesen
haben, einwenden, der Schluss sei so nicht gemeint, andere Stellen
müssten genannt werden: »Aber es war kein Stern, es stürzte,
ein leuchtender Engel des Todes«, oder, noch deutlicher: »Das
Licht, das Türme ließ zerschellen«.
Ja, es stimmt. In all seinen Romanen variiert Thomas Pynchon das
Thema derAufklärung. Ihre nicht eingelösten Versprechen
werden mit ihren unterschiedlichen zerstörerischen Kräften
gekontert, das Progressive trägt die Reaktion bereits in sich,
der
Rationalismus den Irrationalismus, die Schöpfung die Zerstörung.
In »V.« zeigt sich der Universalismus der Aufklärung
als totalitärer Weltstaat, in »Die Versteigerung von
No.
49« wird die Kommunikation antiemanzipatorisch, in »Die
Enden der Parabel« führt der vom gesellschaftlichen abgekoppelte
technisch-wissenschaftliche Fortschritt die Gesellschaft in den
Abgrund, in »Vineland« muss die 1968 begonnene Neuformulierung
der Aufklärung dran glauben, und in »Mason & Dixon«
schließlich wird selbst noch das Glücksversprechen der
Moderne als Lüge entlarvt.
Aber halt, liebe Wertkritiker, die ihr schon in die Buchläden
eilen wollt. Raschelt lieber weiter in eurem Handelsblatt und erstellt
aus dem Wirtschaftsteil der FAZ Tabellen, die uns beweisen sollen,
wann das warenproduzierende System sich selbst abschafft. Erstens
haben wir sonst niemanden, der das macht. Und zweitens sind Pynchons
Romane im besten Sinne postmodern. Sie zerstören auch all das,
was euch wichtig ist: die Dialektik,
die Radikalität, den Kommunismus, die Assoziation der freien
Individuen via Versammlung (und Wortmacht), die Drogen, die Guillotine,
die Faulheit, die Zahlen und vor allem die männliche Formung
der Welt mittels der konsistenten Kritik.
Einiges ist dabei, an dem man festhalten möchte. Aber all das
neue Abseitige, Kaputte, Anarchistische, Hedonistische und Renintente
sowie die Leichtigkeit der Sprache und der
nie endende Humor Pynchons lassen einen über den Verlust gar
nicht lange trauern. Wie wär's mit einem Lied? »Ich weiß,
es ist nicht so scharf wie der alte Rossini [ein paar Takte La gazza
ladra anspielen], Und nicht so groß wie Beet-hoven, Brahms
und Bach
(bubububuu(uu)uu [aus der fünften, gesungen, mit voller Band]),
Aber es ist zehnmal besser, wie Henry James samt seiner Bläser
... wart mal ... seine Bläser? ... seinenn Bläsernn? hm
... wär zehnmal besser ... aber bessern? ... besser nich verbessern?
Tja ... Wenn du, von mei-nem, klei-nen, Lied wirst, schwach! Dum
di dum, di dum, di-diiii, Ja, es ist schöner wie 'ne Symphoniiie,
Es ist MEINE KIFFER-KADENZ, für, diiiich!«
Wo aufhören? Wo man angefangen hat. In Kalifornien spielt der
einzige Roman Pynchons, der auch dort endet, wo er begann, »Vineland«.
In Mexiko schrieb er »V.« und verschwand. Um das südliche
Afrika geht es ihm ständig. Und das nächste Werk des
Paranoiden soll sich, wie man nicht nur von einigen kulturbesessenen
Jesuiten hört,irgendwann in den nächsten zwei Jahren mit
einer russischen Mathematikerin im Göttingen des späten
19. bzw. frühen 20. Jahrhunderts beschäftigen.
Wem es zu lange dauert, auf den neuen Roman zu warten, der kann
sich schon aufs nächste Frühjahr freuen. Dann soll der
Film »Prüfstand 7« von Robert Bramkamp über
das »Lied der Rakete« aus »Die Enden der Parabel«
anlaufen. Nach der Vorstellung trifft
man sich, wie über Tristero zu vernehmen war, im Café
V. am Lausitzer Platz in Berlin-Kreuzberg. See You!
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