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Presseartikel (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.06.2002,
Nr. 139)
Mit V-Affekt: Die Kurvendiskussion ist eröffnet
Kunst und Technik: Köln tagt über "Pynchon/Germany"
von Andreas Rosenfelder
Wer im Physikunterricht nur als Schläfer über die Runden
kam, in dem schlummerte meist ein Philologe. Unverstanden zog das
Gesetz der Schwerkraft die Denkerstirn zur Tischplatte hinab. In
Kurvendiskussionen enthielt sich der kritische Geist der Stimme,
und Prinzipschaltpläne überließ er aus Prinzip den
zukünftigen Elektroingenieuren. Zumindest in Deutschland stellte
die Entscheidung zwischen Millimeterpapier und linierten Bögen
immer eine Grundsatzentscheidung dar: Man floh in die vermeintliche
Freiheit der Textwüsten, um den Zahlenkolonnen zu entkommen.
Längst liegen Folien mit Formeln nicht allein auf Tageslichtprojektoren
von Physiklehrern, längst zieren Sonderzeichen auch die Thesenpapiere
der Literaturwissenschaftler. Anders als zu Schulzeiten elektrisieren
inzwischen gerade jene technischen Zeichnungen, die einstmals Langeweile
ausstrahlten.
Der Ballast des Sachwissens, von der Ästhetik zu Beginn ihrer
Höhenflüge über Bord geworfen, findet heute als Zündstoff
in die Geisteswissenschaften zurück. In der Anziehungskraft,
die der Schriftsteller Thomas Pynchon in den letzten Jahren auf
gelernte Leser in Deutschland ausübte, wirkt nicht zuletzt
ein neuer Magnetismus der Realien. Jene gehärteten Versatzstücke
des Erfahrungswissens, für welche die englischsprachige Welt
den Begriff der Nichtfiktion bereithält, mußte der deutsche
Sprachraum aus Übersee einführen. Doch mit dem Romanwerk
von Pynchon kehrten zugleich deutsche Exportgüter in fremder
Gestalt in die Heimat zurück, namentlich die Wunderwaffen der
Raketentechnik. Eine internationale Konferenz zum Thema "Pynchon
/ Germany" untersuchte nun in Köln die Rückkopplungen
zwischen deutschem Ingenieursgeist und amerikanischer Verschwörungstheorie,
welche Pynchon zur faszinierendsten Störquelle der jüngeren
Literaturgeschichte
machen.
Mit Muffins, Brownies und Cherry Coke bot schon der Imbißstand
das eher spielerische Verhältnis zu den Alltagsdingen dar,
welches die amerikanischen Literaturwissenschaften prägt. Gegen
die strengen Begrenzungen, die den akademischen Raum im Land von
Humboldt umgeben, lenkt gerade die Pynchon-Forschung den Blick noch
ins weiteste Außen. Der Astrologe Douglas Lannark aus Berlin,
mit Nickelbrille, Rauschebart und langen Haaren dem
späten John Lennon ähnelnd, errechnete mit hohem Aufwand
die Geburtsdaten sämtlicher Figuren von Pynchon. Über
der Geburtsstunde des Autors selbst stand am 8. Mai 1937 eine Konjunktion
von Sonne und Uran, Verheißung von Elektrizität und Paranoia,
Genie und Wahnsinn. Der unterhaltsame Vortrag wies keineswegs einen
Mangel an Sachlichkeit aus - vielmehr vollendete er jene Haltung
der Interpretation, welche die Umlaufbahnen der Himmelskörper
mit demselben Ernst liest wie die Flugbahnen von Raketen.
Die Nachfolge Pynchons, deren Attraktivität durch die konsequente
Abschottung des Schriftstellers nur gewinnt, hält die bibelfeste
Kultgemeinde der Pynchon-Forscher zumindest als ironisches Motiv
zusammen.
Die Gefahr einer von Beziehungen so dicht durchkreuzten Textfolie,
wie Pynchons Romane sie liefern, liegt freilich in der Vorwegnahme
all ihrer Auslegungen. Der gelungene Dokumentarfilm "Journey
into the Mind of P." der Schweizer Brüder Dubini, in Anwesenheit
der Filmemacher vorgeführt,
beleuchtete die hermeneutischen Zirkel, welche die Leser um die
Leerstelle Pynchon ziehen.
Kein Zufall, daß die unsichtbaren Links zwischen der Ostseestadt
Peenemünde und der Ostküstenuniversität Cornell,
zwischen dem Raumfahrtingenieur Wernher von Braun und dem Kennedy-Attentäter
Lee Harvey Oswald hauptsächlich von Vernetzungsexperten verwaltet
werden: Bei Darstellungsproblemen kontaktieren Sie den Webmaster.
. . Der zweite Film, die streckenweise kitschnahe Dokufiktion "Prüfstand
7" des deutschen Regisseurs Robert Bramkamp, schien der Verdopplung
seines Gegenstands selbst anheimzufallen - nicht bloß, weil
ein Teil der Tagungsteilnehmer selbst auf der Kinoleinwand auftauchte
und die Bilderlosigkeit des Autors durch eigene Medienpräsenz
ausglich.
Gewiß bildet nicht allein Pynchon, sondern auch sein auf guter
historischer Kenntnis beruhendes Nazideutschland eine Projektionsfläche,
nicht zuletzt für die amerikanische Militärpolitik der
späten sechziger Jahre. Doch vor allem taucht Deutschland als
Technologiepark auf: Neben den Bausätzen der Waffentechnik
setzt Pynchon auch die Elementarteilchen der Tontechnik auf
neue Weise zusammen, wie Thomas Schaub aus Madison sowie Christoph
von Blumröder und Marcus Erbe aus Köln zeigten. Zwölftonreihen
und Sinuswellen bilden demnach nur die positive Rückseite jener
fatalen Bauserien und Flugbögen, welche - eine von Inger Dalsgaard
aus Aarhus ausgezogene Linie - die deutsche Wunderwaffe V2 des Jahres
1945 mit der zum Geschoß
verwandelten Boeing 767 des Jahres 2001 verbinden. Teils erscheint
Pynchons Werk als jener fehlende Sprachbaustein, welcher den Stromkreis
der Kulturgeschichte schließt - eine Art Universalschlüssel,
dessen Unentschlüsselbarkeit doch zugleich außer Frage
steht.
Vielleicht bildet die sonderbare Mischung aus Hermeneutik und Empirie
gerade den Reiz aller Pynchon-Forschung, ermöglicht sie doch
gleichzeitig das Einfügen von Texten und den Anschluß
von Hardware-Komponenten. Friedrich Kittler aus Berlin jedenfalls
führte dem überwiegend amerikanischen und an die Weichheit
der Kulturwissenschaften gewöhnten Publikum abermals vor, wie
man mit dem Lötkolben philosophiert. Mystische Leibhaftigkeit
findet Kittler bei Pynchon allenfalls in der Bauteilkunde: Aus Spule,
Widerstand und Kondensator setzt sich der berühmte Kilroy-was-here-Nasenmann
zusammen.
Lies keine Oden mein Sohn, lies die Fahrpläne: Sie sind genauer.
Oder doch zumindest ein wenig spannender.
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